Das Schild im Fenster mit der Aufschrift »Aushilfe gesucht« ließ Aldric wie angewurzelt stehenbleiben. Er war irgendwie in Gedanken und Sorgen versunken durch das Pearl-Viertel von San Antonio geschlendert, also warum ihm das Schild auffiel, hätte er nicht sagen können.
Vielleicht weil es in diesem Zeitalter, in dem sich absolut alles im Internet abspielte, herausstach. Alle Stellenanzeigen, die er überflogen hatte, und alle Bewerbungen, die er abgeschickt hatte, waren online gewesen. Das war einfach, wie die Dinge heutzutage liefen … nur eben nicht in diesem Geschäft, vor dem er jetzt stehengeblieben war.
Aldric starrte das Schild eine gute Minute an, während er versuchte, sich seine Chancen auszurechnen, eingestellt zu werden, wenn er jetzt hineinging und sich bewarb, bevor er nach Hause gehen und sich umziehen konnte. Nicht dass er irgendwelche schickeren Klamotten gehabt hätte. Jeans, T-Shirts und ein Hemd waren die einzigen Dinge in seinem Kleiderschrank.
Was ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anderes sich bewirbt und die Stelle bekommt, in der Zeit, in der ich nach Hause gehe, dusche, mich rasiere, mich umziehe und wiederkomme?
Egal wie die Chancen auch standen – sein leerer Magen wollte das Risiko nicht eingehen. Aldric blinzelte seine grüblerischen Gedanken weg und schob sich die Brille höher auf die Nase, dann erwischte er sich dabei, wie er das Gesicht verzog und sie wieder genau dahin zurückrutschte, wo sie vorher gewesen war. Er versuchte, sich die Haare glatt zu streichen – da sie dicker waren, neigten sie zum Zerzausen, obwohl sie nicht einmal lang waren – und griff nach dem Türknauf. In diesem Moment sah er den Namen des Ladens, der die Stelle zu vergeben hatte.
Intrinsic Value Antique Shop. Wenigstens Shop war nicht total abgefahren buchstabiert. Es war lächerlich, aber er liebte es, sich darüber aufzuregen, wenn Leute zusätzliche Buchstaben an ein Wort hängten, um Schreibweisen wie Shoppe anstelle von Shop zu kreieren. Ein Antiquitätenladen hatte jedoch vielleicht einen besseren Grund, eine alte Schreibweise des Wortes zu verwenden, als die meisten Geschäfte oder Dienstleistungen und er hatte keinen Grund, voreingenommen an die Sache heranzugehen oder sowas – etwas, das er im Hinterkopf behalten musste.
Obwohl er nichts über Antiquitäten wusste, öffnete Aldric die Tür und trat unter dem Klimpern von Klangspielen ein. Er lugte nach unten auf den Türknauf im Inneren und sah Bändchen mit silbernen und goldenen Glöckchen davon baumeln.
»Guten Nachmittag. Darf ich Ihnen behilflich sein?«
Aldric fuhr so rasch herum, dass er beinahe über seine eigenen Füße gestolpert wäre – nichts Ungewöhnliches für ihn. Hitze schoss ihm in die Wangen und er schluckte, als er den älteren Mann erblickte, der dort mit einer Hand auf eine uralt wirkende Registrierkasse gestützt stand. »Äh, ja, ich, ähm, ich –« Aldric nahm einen tiefen Atemzug und atmete aus, sobald er bis zehn gezählt hatte. Wenn er sich nicht beruhigte, würde er zusätzlich zu seinen Füßen auch noch über seine Worte stolpern, wie er es für gewöhnlich tat, wenn er in Verlegenheit geriet.
»Mein Name ist Elliot Douglas. Ich bin der Besitzer von Intrinsic Value. Bitte nenn mich Elliot.« Elliot umrundete die Ladentheke und machte vor Aldric halt.
»Aldric Beamer.« Aldric reichte ihm die rechte Hand. »Schön Sie kennenzulernen, Elliot.« Sein Mund war trocken und etwas begann in seiner Kehle zu kratzen.
»Ebenso, schön dich kennenzulernen.« Elliot drückte seine Hand noch einmal und ließ dann los. »Bist du hier wegen des Jobs? Ich hab dich draußen stehen sehen und mir gedacht, dass du es dir vielleicht überlegst.«
Aldric hielt sich die Finger vor den Mund und drehte sich zur Seite, ehe er hustete. Er ließ die Hand sinken und wandte sich Elliot wieder zu. »Entschuldigung, die Kapzypresse lässt meine Allergien wirklich einen Gang hochfahren. Ja, Sir, ich bin wegen des Jobs hier. Hat mich überrascht, ein echtes Schild im Fenster zu sehen. Alles passiert ja nur noch im Internet, so wie’s scheint. Mir wurde schon so oft gesagt, dass ich nach Hause gehen und mich im Internet bewerben soll – über echte Schilder denke ich gar nicht mehr nach.«
»Ah ja, das Internet ist ein klasse Werkzeug für viele Dinge, aber ich treffe Menschen lieber erst im echten Leben, statt online.« Elliot lächelte und Aldric realisierte, dass der ältere größere Mann mit den gelbbraunen Augen und der dicken Mähne voll hellbraunem, etwas längerem Haar, das gerade anfing zu ergrauen, recht gutaussehend war.
»Warum kommst du nicht mit mir nach dort hinten und erzählst mir, warum du glaubst, dass du hier bei Intrinsic Value gut reinpassen wirst?« Elliot machte eine Handbewegung in Richtung der Registrierkasse. »Ich war gerade dabei, mein Baby zu reinigen, und würde das gern zu Ende bringen, während wir uns unterhalten.«
»Ja, Sir.« Aldric hustete erneut und wäre am liebsten mit den Holzdielen verschmolzen.
»Hättest du gern ein kaltes Wasser oder einen heißen Tee?«, bot Elliot an. »Ich hab beides hier.«
Aldric war sich bei heißem Tee nicht so sicher. Er kannte nur den Tee aus Texas – kalt, mit viel Zucker und Eis darin. Doch vielleicht war Tee bei Elliot ein Muss. »Ähm – Tee, bitte?«
Elliot warf einen Blick auf ihn zurück. »Du klingst unsicher. Hast du schon einmal heißen Tee probiert?«
Aldric log normalerweise nicht, wenn er es vermeiden konnte. »Hab ich nicht, aber ich hab gedacht, vielleicht hilft ein heißes Getränk bei meinem kratzigen Hals.«
»Das wird es vielleicht. Ich hab ein paar verschiedene Sorten da, aber was, wenn du erst mal Kamille probierst? Die ist gut für alle Arten von Leiden.« Elliot machte vor einem Holztisch mit elegant gewundenen Beinen halt, auf dem eine silberne Teekanne zusammen mit mehreren durcheinandergewürfelten Tassen und Untersetzern stand.
Auf einer weißen Keramikplatte befanden sich Gläser mit Tee und Zuckerwürfeln und ein durchsichtiges Gefäß war mit etwas gefüllt, das wie Honig aussah. Hauchzarte Silberlöffel waren daneben platziert. Aldric schob sich die Hände in die Vordertaschen seiner Jeans. Alles auf diesem Tisch sah hauchzart aus – nicht nur die Löffel – und er hatte Angst, irgendetwas davon anzufassen.
Was bedeuten musste, er sollte sich nicht für diesen Job bewerben.
»Aldric?« Elliot hob eine volle Augenbraue. »Ist Kamille in Ordnung?«
Mit der Erkenntnis, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit dafür gesorgt hatte, nicht eingestellt zu werden, weil Elliot denken musste, dass er eher auf der beschränkten Seite war, schüttelte Aldric den Kopf. »Ist in Ordnung, danke. Ich werde einfach –« Er begann, einen Schritt rückwärts zu machen.
»Einfach was?«, fragte Elliot, der Tee aus einem Glas in ein eiförmiges Sieb löffelte. »Hast du doch kein Interesse an dem Job?«
Aldric biss sich auf die Unterlippe und dachte darüber nach, ob er bleiben sollte oder nicht. Auf der einen Seite hatte er schon einen ersten Eindruck hinterlassen – ob gut oder schlecht. Andererseits hatte Elliot ihn nicht hinausgescheucht. Das muss bedeuten, ich habe immer noch eine Chance, richtig? Bis ich ihm erzähle, dass ich keine Ahnung von den Dingen habe, die dieser Laden hier verkauft. Verdammt.
»Ich bin interessiert, aber ich habe keine Erfahrung mit Antiquitäten«, platzte Aldric heraus, während er Elliot dabei zusah, wie er heißes Wasser über das Sieb mit dem Tee goss. Elliot hatte einen Deckel darauf befestigt, damit die Teeblätter nicht hinausströmten.
Aldric machte einen Schritt nach vorn, da er nicht widerstehen konnte, einen besseren Blick darauf zu bekommen, was Elliot tat. Er nahm die Brille mit den runden Gläsern ab, polierte sie und schob sie sich wieder auf die Nase.
»Der Tee muss ein paar Minuten ziehen«, erklärte Elliot. »Das Teesieb hält die meisten Blätter davon ab, zu entwischen, aber du hast vielleicht trotzdem noch ein paar Stückchen in deiner Tasse. Die sammeln sich normalerweise am Boden.«
»Das ist das Teesieb?«, fragte Aldric, als Elliot das Sieb anstupste, das den Tee beinhaltete.
Elliot lächelte ihm zu. »Ja, genau. Magst du Honig?«
»Ich –« Aldrics Magen entschied sich für genau diesen Moment, um ein lautes Knurren von sich zu geben. Er ließ den Blick sinken und presste sich eine Faust auf den Bauch. »Entschuldigung. Hab das Frühstück ausgelassen.«
»Also, so geht das nicht. Es ist schon fast Zeit fürs Abendbrot. Ich bestell uns etwas zu essen und dann werden wir beide uns für ein richtiges Bewerbungsgespräch hinsetzen – wenn du Interesse an der Stelle hast?« Elliot hob das Glas mit Honig hoch.
»Oh, ich … ich bin – ich dachte nur, ich hätte das Ganze schon in den Sand gesetzt.« Aldric senkte den Kopf und starrte auf die abgelaufenen Zehen seiner Tennisschuhe. »Ich habe keinerlei Erfahrung für das hier. Ich hab bisher nur in Schnellrestaurants gearbeitet. Ich weiß nichts über Antiquitäten. Ich wusste nicht einmal, was dieses Ding – das Teesieb – war.« Seine Ignoranz war peinlich und es ärgerte ihn, dass er nicht mehr wusste.
»Also«, sagte Elliot langgezogen, einen Mundwinkel angehoben. »Überhaupt keine Erfahrung? Das heißt, ich hätte eine unbeschriebene Tafel mit dir, wenn ich dich einstellen würde. Würde dir keine schlechten Gewohnheiten abgewöhnen oder Falschinformationen aufklären müssen."
Aldric hatte beinahe zu viel Angst, daran zu glauben, dass er vielleicht eine Chance haben könnte, sein beschissenes Apartment zu behalten und schließlich doch nicht mehr lange hungern zu müssen. »Ist das Ihr Ernst?«
»Voll und ganz. Hier – lass mich deinen Tee fertig machen, dann bestell ich was vom Restaurant gegenüber. Die haben von allem etwas. Ich hab deren Speisekarte hinter der Theke. Das dauert nur einen kleinen Moment …« Elliot nahm das Sieb heraus und gab dann Honig in den Tee.
»Vielen Dank.« Aldric hätte die Einladung ablehnen sollen, aber die Wahrheit war, er war zu hungrig, um seinen Stolz ihn die Nahrung kosten zu lassen. Er nahm die warme Teetasse von Elliot entgegen und atmete den duftenden Dampf ein, der daraus emporstieg. »Oh! Das riecht gut.«
Elliot lächelte ihm zu, ein erfreuter Ausdruck, wenn Aldric ihn nicht falsch las. »Ich hoffe, dir gefällt auch, wie er schmeckt. Lass mich die Karte holen, dann kannst du sie mit mir durchblättern.«
»Okay, danke.« Aldric nahm einen Schluck Tee. Er war heißer auf seiner Zunge, als er erwartet hätte, und er zuckte zusammen, als er schluckte. Er war froh, dass Elliot ihn nicht dabei gesehen hatte. Den nächsten Schluck machte er langsamer. Der Geschmack war so angenehm wie der Geruch des Tees, der Honig süß, aber nicht zu penetrant.
»Lass mal sehen. Ich hatte noch nichts Schlechtes von denen, aber dann wiederum bestelle ich auch immer dasselbe. Ich bin ein Gewohnheitsmensch, auf vielen Ebenen.« Elliots Lächeln war reumütig geworden.
»Was bestellen Sie?«, fragte Aldric, bevor er noch einen Schluck nahm. Er könnte süchtig nach heißem Tee werden.
»Nichts Aufregendes – nur den gegrillten Lachs mit gedünstetem Gemüse und gestampften Süßkartoffeln.« Elliot reichte ihm die Speisekarte. »Aber ich glaube, die Burger sollen auch gut sein. Immer wenn ich im Restaurant bin und die sehe und rieche, erinnern sie mich sehr doll an die, die mein Bruder früher so geliebt hat.«
»Jüngerer oder älterer Bruder?« Aldric klappte das Menü aus Papier auf, um die Auswahl zu überfliegen.
Elliot erstarrte eine Sekunde, als würde irgendetwas nicht stimmen. Bevor Aldric ihn fragen konnte, ob alles in Ordnung war, atmete er tief ein und fasste sich dann an die Schläfen, wo er ein paar Strähnen graues Haar hatte. »Jünger. Chris ist zweiunddreißig, Natty ist vierunddreißig und ich bin der alte Herr, irgendwo in seinen Vierzigern. Hast du Geschwister?«
Aldric entschied sich, den Schinkenburger mit Süßkartoffel-Pommes zu bestellen. Letztere hatte er noch nie probiert. »Ich hab zwei, genau wie Sie. Zwillinge. Sie sind fast zwanzig Jahre älter als ich.«
Elliots Augen weiteten sich. »Das sind zwei ganze Jahrzehnte!«
»Ja, ich war eine Überraschung«, murmelte Aldric. Das war eine nettere Bezeichnung als die, die seine Familie von Zeit zu Zeit für ihn verwendet hatte. »Gregory und Simon sind vierzig. Ich bin einundzwanzig.« Er hoffte, dass Elliot ihm keine weiteren Fragen über sie oder Aldrics Familie stellen würde, Punkt. In der Hoffnung, dieses Szenario zu umgehen, tippte er auf die Karte. »Kann ich den hier bekommen? Den Schinken-Pilz-Burger?«
»Natürlich, natürlich.« Elliot ging zurück hinter die Ladentheke und nahm etwas Schwarzes in die Hand. Er steckte den Finger in einen silbernen Ring, der kleinere Löcher hatte, und Aldric brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass Elliot eine Art altes Telefon bediente.
Aldric hatte vage Erinnerungen daran, dass seine Eltern einen Festnetzanschluss besessen hatten, aber als er irgendwann alt genug gewesen war, um sich dafür zu interessieren, hatten sie alle schon Handys gehabt. Dennoch – kein Telefon, das er je gesehen hatte, hatte so ausgesehen wie das, in das Elliot nun sprach.
Elliot grinste, als wüsste er über Aldrics Gedanken Bescheid, was ihn dazu veranlasste, wegzusehen und noch einen Schluck von seinem Tee zu nehmen. Als Elliot ihn angesehen hatte, war es Aldric gedämmert, dass sein potenzieller Chef nicht nur recht gutaussehend war, sondern sehr attraktiv. Er ist fast im selben Alter wie meine Brüder, eklig. Aldric hatte einen Job nötiger als Sex und er hatte sich auch noch nie zu älteren Männern hingezogen gefühlt – und er würde jetzt auch nicht damit anfangen.
Nicht dass Elliot an jemandem wie ihm Gefallen finden würde. Auch wenn er erst fünfzehn Minuten in Elliots Gegenwart verbracht hatte, konnte er bereits sagen, dass der Typ viel stilvoller war, als er es je sein würde. Es bestand außerdem die sehr reale Wahrscheinlichkeit, dass Elliot gar nicht schwul war, trotz der Schwingungen, die Aldric wahrnahm. Na ja, es war so oder so egal.
Elliot legte auf und tippte auf das schwarze Telefon. »Es ist ein uraltes Wählscheibentelefon. Meine Großeltern und Eltern hatten solche, ganz früher, auch wenn wir schon auf ein Tastentelefon umgestiegen waren, als ich eingeschult wurde. Willst du sehen, wie es funktioniert?«
Aldric juckte es in den Fingerspitzen, genau das zu tun. »Ja klar – ich meine – ja, würde ich gern.«
In der Unterrichtsstunde lernte er mehr, als einfach nur eine Nummer in das Telefon einzuwählen – er erfuhr auch, dass Elliot ein geduldiger und freundlicher Mann war. Er ermutigte ihn, Fragen zu stellen, und beantwortete alle, die Aldric in den Sinn kamen, was befreiend auf eine Art und Weise war, die Aldric bis dahin nicht gekannt hatte. Das alte Sprichwort darüber, dass Kinder manchmal zwar gesehen aber nicht gehört wurden, war eine Regel im Haus seiner Eltern gewesen.
»Du bist von neugieriger Natur und hast ein gutes Gehirn.« Elliot lehnte sich mit der Hüfte an die Ladentheke. »Ich glaube, du wirst dich hier gut anstellen.«
Aldric blinzelte überrascht. Er war froh, dass er die Teetasse abgestellt hatte, denn andernfalls hätte er sie möglicherweise fallen lassen, in Anbetracht der Tatsache, wie stark seine Hände zitterten. »Ich hab den Job?«
Elliot nickte. »Hast du.«
»Aber … was ist mit meinen Referenzen und meinem Lebenslauf?« Aldric bereute die Frage, sobald er sie ausgesprochen hatte.
»Ich bilde mir ein, exzellentes Urteilsvermögen zu haben, wenn es um Menschen geht«, sagte Elliot. »Habe ich unrecht, was dich angeht?«
Aldric schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur so – ich weiß rein gar nichts über Antiquitäten oder darüber, was ich hier eigentlich tun werde.«
»Das kannst du lernen. Jemand hat mir vor ein paar Jahren eine Chance gegeben und das hier« – Elliot machte eine ausladende Handbewegung entlang der Antiquitäten – »möglich gemacht. Ich bin auch immer noch am Lernen, könnte man eigentlich sagen. Das ist ein Grund, warum ich dafür sorge, dass ich immer eine alphabetische Liste von allen Gegenständen im Laden und von denen hinten im Lager habe. Wenn jemand – sagen wir – hiernach fragt …« Elliot ging zur zweiten Reihe mit Regalen hinüber und zeigte auf ein silbernes Tablett. »Nach was sieht das für dich aus?«
Der Schweiß trat Aldric auf die Stirn. Er wusste, wonach der Gegenstand für ihn aussah, und es schien offensichtlich – versuchte Elliot ihn reinzulegen? Nein, Elliot war nichts als freundlich zu ihm gewesen. Aldric durfte sich jetzt nicht von seiner eigenen Unsicherheit aus dem Konzept bringen lassen. »E–ein silbernes Tablett?«
Elliots Lächeln hätte auch den dunkelsten Raum erhellen können. »Ja! Also würdest du einfach das Buch mit den goldenen Seiten unter der Kasse öffnen – los, schau mal nach. Öffne es und such nach ›Silbertablett‹«
Aldric tat wie ihm geheißen und war erfreut herauszufinden, dass die meisten Seiten sogar ein kleines Bildchen vom jeweiligen Gegenstand in der rechten unteren Ecke hatten. »Es ist ein silberner Präsentierteller aus dem achtzehnten Jahrhundert.« Er las die zusätzlichen Informationen ab, während Erleichterung ihn durchflutete, auch wenn er über ein paar der Wörter stolperte. Er konnte diesen Job machen.
»Du wirst nicht oft allein im Laden sein – nicht zu Anfang«, sagte Elliot. »Ich werde mit dir auf dem Parkett sein oder, wenn du erst einmal eine Weile hier gewesen bist, in meinem Büro. Manchmal bin ich ein oder zwei Tage weg, zum Beispiel für eine Messe oder eine Auktion, oder ich muss vielleicht die Stadt verlassen, um eine Antiquität einzukaufen oder zu verkaufen oder um an einer Veranstaltung teilzunehmen, aber dann schließe ich den Laden.«
Aldrics Aufregung verebbte. »Oh. Wie … wie lange wären Sie denn dann weg? Und wie oft kommt das vor?« Er würde Arbeitsstunden einbüßen und wenn er sich nicht selbst unterhalten könnte –
»Ich würde dich trotzdem kommen und im Lager arbeiten lassen, während ich weg bin. Es wird immer eine Menge zum Saubermachen geben. Ich werde dir zeigen, wie man Silber poliert und Antiquitäten reinigt – zumindest die, die gereinigt werden sollten«, fügte Elliot noch hinzu, bevor die Tür geöffnet wurde und eine junge Frau mit einem Karton in der Hand eintrat. »Meredith! Du bist ein Gnadenengel.«
Meredith schüttelte den Kopf, wodurch die braunen Locken auf ihren Schultern etwas durcheinandergerieten, und kicherte. »Wohl kaum. Ich bin nur das Liefer-Mädel von gegenüber. Wer ist das?«
»Aldric Beamer, mein neuer Angestellter«, beantwortete Elliot die Frage mit einem Seitenblick auf Aldric. »Richtig?«
»Er ist sich noch nicht sicher?«, fragte Meredith, ehe Aldric antworten konnte. Sie zwinkerte ihm zu. »Du solltest für Mr Douglas hier arbeiten. Er ist cool und ich wette, er zahlt gut, zumindest nach dem Trinkgeld zu urteilen, das er mir gibt.«
Aldric hatte gar nicht darüber nachgedacht, zu fragen, wie sein Gehalt aussehen würde. Diese ganze Job-Geschichte war so schnell passiert, das alles fühlte sich an wie ein Traum.
»Wir haben sein Gehalt noch nicht besprochen.« Elliot holte seine Geldbörse hervor und zog mehrere Scheine heraus. »Aber natürlich halte ich es für wichtig, ein Gehalt zu zahlen, mit dem man gut über die Runden kommt.«
Aldric wusste aus eigener Erfahrung, dass man mit dem Mindestlohn nicht über die Runden kam. Er hatte Jobs gehabt, bei denen er beinahe Vollzeit eingestellt gewesen war, und hatte oft auf Mahlzeiten verzichtet, um seine Miete zu bezahlen. Mehr als einmal war sein Strom abgestellt worden. Keine Fast-Food-Kette, bei der er gearbeitet hatte, war bereit gewesen, ihn Vollzeit einzustellen – das hätte bedeutet, ihm eine Krankenversicherung zu stellen. Dann hatten die Dinge sich verschlechtert und auf einmal war er arbeitslos gewesen, am Rande der Obdachlosigkeit.
»Aldric?«
Aldric nahm sich die Brille mit einer Hand ab und rieb sich mit den Knöcheln der anderen das Auge. »Entschuldigung. Ich bin irgendwie abgedriftet. Ich verspreche, das wird mir nicht passieren, wenn ich bei der Arbeit bin.«
Elliot hielt ihm eine Box und ein Getränk entgegen. »Ich habe vollstes Vertrauen in deine Fähigkeit, gute Arbeit zu leisten. Hier, nimm das und geh nach hinten durch. Zweite Tür links ist mein Büro. Wir essen dort zu Abend.«
»Wie schick«, sagte Meredith, in deren braunen Augen der Schalk glänzte. »War schön, dich kennenzulernen, Aldric.«
»Ebenso, schön dich kennenzulernen«, antwortete er, sein Gesicht erhitzt, weil er vor ihr und Elliot in Gedanken so abgeschweift war.
Er fand Elliots Büro und hatte fast schon Angst, sich in einen der voluminösen Ledersessel zu setzen. Der ganze Raum sah aus wie etwas aus einem alten Film, mit glänzenden Holzoberflächen, glatten Ledersitzen und gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos von vor Jahrzehnten an den Wänden.
»Setz dich. Na ja, rück näher an den Schreibtisch, wenn du den als Ablage benutzen willst.« Elliot schritt auf die andere Seite seines Schreibtischs, ließ sich nieder und stellte sein eigenes Essen darauf ab. »Da liegt ein Untersetzer für dein Getränk auf dem Holztablett zu deiner Linken.«
Aldric fand den Untersetzer und stellte sein Getränk sowie seine eingepackte Mahlzeit ab, bevor er einen der Lederstühle näher heranrückte. »Das hier ist ein sehr schönes Büro. Ist alles hier drin antik?«
Elliot begann, sein Essen aus dem Karton zu stapeln, in dem es geliefert worden war. »Ja, bis auf die Stifte und das Papier. Auch wenn ich einen Federkiel besitze!« Er zeigte auf eine lange weiße Feder. »Der ist eigentlich nicht wirklich antik, aber er gefällt mir.«
Aldric aß einen Bissen von seinem Burger und sein Magen gab ein freudiges Grummeln von sich. »Der ist gut«, sagte er, nachdem er geschluckt hatte.
Elliot grinste. »Freut mich, dass es dir schmeckt. Mein Lachs riecht auch großartig, so wie immer. Bevor ich esse, will ich aber noch über Gehalt, Arbeitsstunden und Krankenversicherung mit dir sprechen.«
Aldric erstickte beinahe an der Süßkartoffel-Pommes, von der er gerade abgebissen hatte. »Krankenversicherung?« Nein. Seine Ohren erlaubten sich einen Scherz mit ihm.
Doch das taten sie nicht. Elliot erklärte ihm, wie er dafür sorgen würde, dass Aldric versorgt war, ohne dass es eine Wartezeit gäbe. Aldric würde eine volle Vierzigstundenwoche arbeiten und pro Stunde bezahlt werden, das sogar mit Überstunden, und auch wenn er durch die Arbeit bei Intrinsic Value nicht reich werden würde, hätte er doch endlich ein Gehalt, mit dem er gut über die Runden kam, was er sich so lange gewünscht hatte. Es schien zu gut, um wahr zu sein, und Aldric stimmte schnell und dankbar allem zu, was ihm angeboten wurde, und hoffte, dass nichts passieren würde, was diesen wahrgewordenen Traum wieder um ihn herum zerbröseln lassen würde.