“Sind alle bereit?”
Sammy sah sich in der Gruppe Personen um, die sich in seinem Buchladen versammelt hatten. Es war Mittwoch, was bedeutete, dass nach Ladenschluss ein Buchclub-Treffen stattfinden würde. Ihre kleine Gruppe traf sich mindestens zwei Mal pro Monat, um über Bücher und interessante Themen, die mit Büchern zu tun hatten, zu diskutieren, und Sammy liebte es. Der Club hatte sich ein halbes Jahr, nachdem er den Laden, Sammys Bücherecke, eröffnet hatte, gegründet und die Teilnehmer waren für ihn eine Art Familie geworden, die er nach dem Tod seiner Eltern vor fünf Jahren unbedingt brauchte. Er ließ seinen Blick schweifen, um sicherzustellen, dass alle ihre Cookies hatten—dieses Mal von den beiden Hexen Mavis und Maribell mitgebracht—sowie ihr Lieblingsgetränk.
Der köstliche Duft von frisch gebackenen Keksen, vermischt mit dem Aroma zweier Haselnuss Toffee Lattes, dem schärferen Geschmack von zwei Chai-Tees—mit sehr viel Zimt—und seiner eigenen heißen Schokolade vor dem vertrauten Hintergrundgeruch von Büchern, alt und neu, brachte ihn erneut dazu, sich selbst dafür zu loben, die teure Kaffeemaschine gekauft und den kleinen Lesebereich gegenüber seiner Kasse eingerichtet zu haben. Die Mitglieder des Buchclubs saßen auf den vier alten Sofas, die um zwei niedrige Tische herum standen und machten es sich gemütlich.
Sammy war vor allem deshalb auf dieses Arrangement stolz, weil er alle Möbel auf Flohmärkten gefunden und sie selbst hergerichtet hatte. Die whiskeyfarbene Ledercouch hatte nicht viel Arbeit gemacht. Es hatte ausgereicht, sie zu reinigen und das Leder mit einem speziellen Balsam zu behandeln, und schon strahlte sie wieder in altem Glanz. Sie roch jetzt leicht nach Bienenwachs, was dazu führte, dass Sammy jedes Mal, wenn er sich auf sie setzte, einen Pfefferminztee mit Honig wollte. Die beiden längeren Sofas waren aufwendiger gewesen. Er hatte sie neu gepolstert und auch neu bespannt. Jetzt konnten sich die Kunden auf den Farben des Regenbogens niederlassen, um ihre neuen Einkäufe zu lesen. Die letzte Sitzgelegenheit war eine Liege, deren Rahmen er rosa gestrichen und dann mit Goldflitter bestäubt hatte. Ein türkiser Überwurf ließ das Stück strahlen. Einer der Tische war mit Punkten in verschiedener Größe und Farbe bedeckt und auf dem anderen befanden sich Wandtattoos von Drogon und Smaug, die sich vor einem schwarzen Hintergrund anblickten.
Sammy war der Erste, der zugab, dass sein künstlerisches Talent eher dem nahekam, was ein Sechsjähriger produzieren konnte, als den wunderbaren Stücken, die jemand mit echtem Können erschaffen konnte, aber bei den Möbeln und seinem Laden hatte er gute Arbeit geleistet. Vielleicht lag es daran, dass er seinen kleinen Bücherhafen so sehr liebte, dass er sich selbst übertraf. Mit Ausnahme des Laptops in seinem Büro und der Kaffeemaschine war nichts in dem Laden neu. Das meiste kam von Flohmärkten und Garagenverkäufen, was einen interessanten und bezaubernden Stilmix bedeutete. Sammy hatte ziemlich viel Zeit damit verbracht, seine Bücher passend zu den Möbeln zu verteilen. Seine antiken Bücher waren in offenen Schränken aufgereiht, die vom Alter her zu ihnen passten—oder ihnen nahekamen. Die Fantasy- und Science-Fiction Bücher wohnten in Regalen von IKEA, die er silbern angesprüht hatte. Die Romantik-Bücher hatten ihre Heimat in alten Weinkisten aus Holz gefunden, die in kleinen Stapeln aus sechs bis zehn Teilen überall im Laden verteilt waren. Comics und Mangas waren in großen Kisten verstaut, die er aus Paletten gebaut und in verschiedenen Blautönen bemalt hatte. Der Laden war Sammys Vorstellung von Zuhause, ein Gefühl, das sich gut zu vermitteln schien, weil die meisten seiner Kunden Stammgäste waren und es liebten, ihre Zeit hier zu verbringen.
Sammy sah seine Buchclub-Mitglieder und erworbene Familie an und spürte einen kurzen Schauder, als er sich an ihr letztes Treffen erinnerte, bei dem Amber, die Banshee, darauf bestanden hatte, für sie alle zu backen. Sie mochte ja vierhundert Jahre alt sein, aber genau wie bei jeder anderen Banshee auf der Welt, waren ihre Backkünste die eines blinden Mannes, der sich mit beiden Armen auf den Rücken gebunden in einer Küche zurechtfinden musste. Nichtexistent. Laut Emilia, der Vampirin in ihrer Gruppe, hatte es etwas mit ihrer Magie zu tun, die es Banshees gestattete, den genauen Todeszeitpunkt für jede Person festzustellen. Anscheinend vertrug sich die Mischung, in der Lage zu sein, in die Zukunft zu sehen, ohne das Gleichgewicht der Zeit durcheinanderzubringen und dennoch Menschen vor ihrem bevorstehenden Tod zu warnen, nicht gut mit jeder Form von Lebensmittelzubereitung. Warum genau das so war, konnte—oder wollte— Emilia nicht sagen. Als einziger Mensch in einer Gruppe Paranormaler hatte Sammy sich daran gewöhnt, nicht alles zu wissen. Es gab viel zu viele Dinge und er hatte schon bald, nachdem er in diese Welt getreten war, gelernt, dass Unwissen in vielen Angelegenheiten, an denen Paranormale beteiligt waren, wirklich ein Segen war. Er hätte es jedoch bevorzugt, von Ambers Anti-Talent in der Küche zu wissen, bevor er ihr Angebot annahm, sich um die Snacks zu kümmern.
Per Gruppenvotum war es Amber verboten worden, je wieder Süßigkeiten zu einem der Treffen mitzubringen, auch wenn Jon, der Zombie, der im Keller unter dem Buchladen wohnte, Sammy gegenüber später zugegeben hatte, dass die steinharten Brocken gar nicht so schlimm gewesen waren, sobald man sich durch die Kruste gearbeitet hatte—die verbrannte, schwarze Kruste, die vielleicht unter Umständen einmal Zucker gewesen war. Sammy schluckte schwer. Sich nur an den Geschmack zu erinnern, drehte ihm den Magen um. Und er hatte es nicht einmal geschafft, bis zum Kern des—er versuchte, ein passendes Wort für die tödlichen Stücke ballistischen Backwerks zu finden, und entschied sich schließlich für „Gebäck“—vorzudringen. Declan und Troy, die beiden Werwolf-Alphas, ebenso wie Emilia, hatten schärfere Zähne und mehr Kraft in ihren Kiefern und der Ausdruck auf ihren Gesichtern, als die Kruste nachgegeben hatte, war verstörend gewesen, um es milde auszudrücken.
„Ich sehe nicht, was an denen hier so anders ist“, verkündete Amber mit einem Schmollen, während sie einen perfekt geformten Chocolate-Chip-Cookie in die Höhe hielt. Ihr Pixie-Cut mit den neongrünen Haaren harmonierte gut mit den riesigen, smaragdgrünen Ohrringen, der breiten goldenen Kette mit den verschiedenen Amuletten, die an ihrem Hals hing, den fünf Lederarmbändern mit den eingeätzten keltischen Runen und den ungefähr zwölf Ringen, die sie an ihren Fingern trug. Verglichen mit ihrem Schmuck war ihre Kleidung unauffällig—eine schwarze Skinny Jeans, schwarze Sneaker und ein schwarzes T-Shirt mit einem glitzernden Einhorn, das verkündete, Fresst Meinen Sternenstaub, Idioten.
„Der Unterschied, meine liebe Amber, ist, dass man diese Cookies essen kann, ohne einen Zahn zu verlieren. Es tut mir so leid, dir das sagen zu müssen, aber ich kann mir vorstellen, dass es deine Backkünste waren, an die Terry Pratchett gedacht hat, als er Zwergenbrot erfunden hat.“
Declan schob sich einen der Cookies in den Mund, kaute mit einem Ausdruck reiner Seligkeit auf seinem lächerlich gut aussehenden Gesicht darauf herum und schluckte. Er und Troy, der aus geschäftlichen Gründen an diesem Abend nicht anwesend war, sahen wie jedermanns feuchter Traum aus. Sie waren groß und hatten ebenmäßige Gesichter mit wie in Stein gemeißelten Kiefern und scharfen Wangenknochen, breite Schultern, schlanke Hüften, lange, muskulöse Beine und Haare, die so dicht und gesund waren, dass Sammy wusste, dass Frauen dafür töten würden. Offensichtlich war gutes Aussehen Teil des genetischen Plans bei Gestaltwandlern, aber Sammy fand es dennoch beinahe beleidigend, wie perfekt Declan und Troy waren. Wie zwei Seiten einer Münze, einer dunkel und gefährlich, der andere blond und … nun, gefährlich, waren sie eine ständige Versuchung für Frauen und Männer. Als sie dem Buchclub beigetreten waren, hatte Sammy einige verstörend heiße Träume über einen Dreier mit ihnen gehabt und er hatte beinahe vier Monate gebraucht, ehe er in der Lage gewesen war, sie in die „Freundezone“ zu schieben. Es hatte geholfen, ihre wahren Persönlichkeiten zu erleben—nachdem sie sich sicher genug gefühlt hatten, sich während der Treffen zu entspannen. Denn ganz egal wie perfekt sie auch aussahen, waren die beiden Werwölfe doch beinahe nervtötend arrogant und übermäßig selbstbewusst, was typisch für Alphas war—das hatte Jon zumindest erklärt. Was sie rettete, waren ein großartiger Sinn für Humor und ihre unübliche Wahl, was ihr Lieblingsbuch betraf—Stolz und Vorurteil. Nachdem sie das gestanden hatten, konnte niemand in ihrer kleinen Gruppe sie mehr zu ernst nehmen, denn wie konnte jemand, der das perfekte Buch liebte, eine schlechte Person sein? Das Getue war genau das—eine Fassade, um potenzielle Feinde zu verschrecken. Und die paranormale Welt war voll davon.
„Zwergenbrot?“ Amber hob eine ihrer scharf gezupften Brauen an, ein Hauch Stahl klang in ihrer Stimme durch.
„Nimm es dir nicht zu Herzen, meine Liebe. Wenn du möchtest, kannst du vorbeikommen und vielleicht können wir dir beibringen, wie man sie richtig macht.“
Maribell lächelte Amber an und tätschelte ihre Hand. Die Hexe sah wie eine nette, ältere Dame aus, mit ihrem Blumendruck-Kleid, der rechteckigen Handtasche und dem perfekt frisierten Knoten an ihrem Hinterkopf. Ihre dichten schwarzen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und um ihre mandelförmigen Augen herum—ein Erbe ihres asiatischen Vaters—machten Lachfalten ihre Gesichtszüge weicher. Sammy wusste es jedoch besser. Maribell erinnerte ihn an seine Lehrerin aus der ersten Klasse, Mrs. Smithson, die in der Lage gewesen war, wilde Schüler mit einem strengen Blick zu zähmen. Jene, die ihre Missbilligung erregten, lernten sehr schnell, dass es nichts Schlimmeres gab, als den Zorn einer provozierten Lehrerin … außer den Zorn von Hexen. Und bei Mavis und Maribell war die erste Lektion immer auch die letzte.
Amber schmollte, war von Maribells Angebot mitnichten besänftigt. „Ich habe mich ganz genau an das Rezept gehalten!“
„Natürlich hast du das, meine Liebe. Du bist eine Banshee, nicht dumm.“ Mavis, die neben Maribell saß und haargenau wie eine liebende Großmutter aussah, lächelte Amber warm an. „Aber beim Backen geht es nicht darum, ein Rezept zu befolgen. Es braucht eine gewisse Leidenschaft, die manchen Leuten fehlt. In einer Küche zu sein ist eine Berufung, keine Aufgabe.“
„Dann vergesst das mit den Stunden. Ich hasse es, in einer Küche zu stehen.“ Amber zuckte mit den Schultern und einfach so hatte die Diskussion ihr Ende gefunden.
Sammy räusperte sich. So sehr er es liebte, dem Gezänk seiner Freunde zu lauschen, hatten sie doch ein ernstes Thema vor sich. Er mochte es normalerweise nicht, im Rampenlicht zu stehen, aber die Dinge, die sie diskutierten, waren wichtig und verdienten seine volle Hingabe. Sein ganzes Leben lang war er ein Nerd gewesen, immer dann am glücklichsten, wenn er sich in Welten verlieren konnte, die von den harschen Tatsachen der Welt weit entfernt waren, eine Fähigkeit, die von seinen Klassenkameraden nicht sonderlich geschätzt worden war. Für sich zu bleiben hatte ihn in der Vergangenheit vor einer Menge Ärger bewahrt und diese Angewohnheit war schwer abzuschütteln.
Er sah sich um und erblickte nur ähnlich denkende Leute, die die Ernsthaftigkeit der Situation verstanden.
„Lasst uns über das Konzept des ewigen Helden reden, wie er in Michael Moorcocks Chroniken von Corum dargestellt wird. Ehe wir uns direkt in die Geschichte stürzen, denke ich, müssen wir über das Konzept des Helden sprechen, weil mir, als ich angefangen habe, über das Buch nachzudenken, aufgefallen ist, wie einfach das auf den ersten Blick zu sein scheint und wie kompliziert es wird, wenn man sich näher damit befasst. Wer möchte anfangen?“
Sammy sah sich um und Jon hob seine Hand. Der Zombie war notorisch schüchtern—noch mehr als Sammy—und sie alle bemühten sich, ihn während ihrer Treffen so viel wie möglich reden zu lassen. Sammy hatte den Verdacht, dass der Buchclub Jons einziger Sozialkontakt war. Er lebte im wahrsten Sinne des Wortes hinter seinem Computer.
„Ja, Jon?“
Der Zombie fing an, seine Hände in seinem Schoß zu kneten, ein Zeichen, dass er eine Menge Gedanken in seinem Kopf hatte und versuchte, sie in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen. Nach mehr als vier Jahren regelmäßiger Treffen, wusste Sammy, wie er seine Freunde lesen musste.
„Helden sind immer irgendwie archaisch, finde ich—zumindest die, die von einem breiten Publikum anerkannt werden. Ich will damit sagen, seht euch Skyrim an, das Computerspiel. Der Dragonborn ist dieser riesige, breite Mann mit Muskeln und einem Schwert und sein Gesicht wird von einem Helm mit zwei gewaltigen Hörnern verdeckt. Es ist, als ob die Person selbst keine Rolle spielt, nur das, was sie repräsentiert.“
Sammy nickte aufmunternd. Das war ein guter Ansatzpunkt.
„Ich stimme Jon zu.“ Emilias melodische Stimme war wie eine Liebkosung für die Ohren. Sammy hätte es wahrscheinlich deutlich mehr genossen, sie zu hören, wenn er nicht gewusst hätte, dass sie Teil ihres genetischen Bauplans war, um Beute anzulocken. Sie hätte das Telefonbuch vorlesen können und es hätte sich wie die interessanteste Geschichte auf der ganzen Welt angehört.
„Nicht alle Helden sind verborgen, aber die grundlegenden archaischen Züge sind immer da. Zum Beispiel Aragorn, aus Herr der Ringe … Er sieht kultiviert aus, aber wenn es zur Schlacht kommt, zeigt er seine wilde Seite, was ich irgendwie mag.“ Sie zögerte. „Warum finden wir rohe Gewalt attraktiv?“
„Weil sie Dinge erledigt.“ Declan wackelte mit seinen Brauen in ihre Richtung. Vampire und Werwölfe mieden sich normalerweise, aber obwohl Declan und Troy Alphas waren und Emilia sehr altem Vampiradel entstammte, verstanden sie sich erstaunlich gut. Sammy dachte, das lag an ihrer gemeinsamen Liebe für Bücher—und der Tatsache, dass sie von ihren eigenen Leuten als seltsam angesehen wurden, wegen des Lebens, das sie gewählt hatten. Soweit Sammy es verstanden hatte, war es für zwei Alphas nicht normal, sich zusammenzutun und eine Firma zu gründen, anstatt ein Rudel anzuführen, eine Gefährtin zu finden und für sich zu beanspruchen und dann Babys mit besagter Gefährtin zu produzieren.
Emilia seufzte. „Das tut es wohl. Aber warum werde ich dann beeinflusst? Ich kann auch Dinge erledigen. Ich bin stark genug, um einen Mann, der doppelt so groß ist wie ich, in zwei Teile zu zerreißen, ohne dass ich mich anstrengen müsste und doch finde ich den Gedanken an einen Helden seltsam attraktiv.“
„Ich glaube, es hat mit Konditionierung zu tun.“ Declan nahm einen Schluck von seinem Getränk. „Obwohl die Gesellschaft sich weiterentwickelt hat und uns beigebracht wird, dass brutale Gewalt nicht alle Probleme löst, dass es andere Möglichkeiten gibt, Dinge zu bewältigen, möchten wir immer noch, dass unsere Helden bestimmte Attribute besitzen. Schaut euch all die Superheldenfilme an, die im Moment herauskommen. Keiner der Schauspieler ist hässlich. Der Held ist ein Konzept, das mit der Realität nichts zu tun hat, ein Vorbild, von dem wir wissen, dass wir es nie ganz erreichen werden, was wahrscheinlich einer der Gründe ist, warum Helden wie Corum am Ende sterben.“
„Man fühlt sich dann besser, nicht wahr? Wenn man weiß, dass sie wie jeder andere auch enden oder sogar noch schlimmer.“ Mavis sah nachdenklich aus. „Es ist, als ob wir die Perfektion, nach der wir uns sehnen und die wir ihnen zuschreiben, ausgleichen müssen. Ein wenig so, als hätte man ein sauberes Auto und macht es absichtlich hin und wieder schmutzig, nur um zu zeigen, dass man es kann.“
„Ja. Du hast recht. Aber das erklärt dennoch nicht, warum ich spüre, wie meine nichtexistierenden Eierstöcke zucken, wenn ich Jason Momoa auf dem Bildschirm sehe.“ Amber klang ein wenig frustriert.
„Zuckt auch dein Loch?“ Jon sah sie mit ernstem Gesichtsausdruck an.
Unter anderen Umständen wäre diese Frage als unhöflich empfunden worden, aber sie standen sich alle nahe und es war eine bekannte Tatsache—zumindest unter Paranormalen—dass Banshees asexuell und nicht binär waren. Sie bezeichneten sich rein aus Tradition als weiblich. Banshees sahen alle mehr oder weniger gleich aus—klein, ungefähr einen Meter vierundsechzig, mit einem zierlichen Körperbau, der ihre Stärke verbarg, feinen Gesichtszügen und langen weißen Haaren. Viele von ihnen versuchten, wie Amber, ihr Aussehen zu individualisieren, indem sie ihre Haare abschnitten und färbten, expressive Kleidung oder Schmuck trugen und sich Tattoos oder Piercings stechen ließen.
„Ja.“ Sie schauderte. „Ich habe normalerweise überhaupt keinen Sexualtrieb und es ist nicht so, dass ich Jason Momoa, den Mann, möchte. Es ist eher ein allgemeines Sehnen, das sich als etwas Sexuelles manifestiert—was irgendwie seltsam ist, wenn man genau darüber nachdenkt.“
„Nicht so seltsam, wie du vielleicht denkst. In einem Wolfsrudel darf der stärkste Wolf wählen und die schwächeren, vor allem die Omegas, sehen es als Gewinn an, ausgewählt zu werden. Ihr Status ist direkt an den ihres Gefährten gebunden. Menschen sind genauso, genau wie die meisten anderen Arten. Und obwohl Banshees eine andere Rasse sind, seid ihr schon lange genug hier, dass ein Teil davon auf euch abgefärbt hat.“ Declan lächelte, zeigte all seine perfekt weißen Zähne.
„Ich stimme Declan zu. Kulturelle Interferenz ist eine stärkere Macht, als viele denken. Und das Konzept des Helden ist universell. Es ist nur natürlich, dass ein bestimmtes Bild sich durchsetzt. Soweit ich weiß, gibt es keine Geschichten über berühmte Banshee-Helden, oder?“ Maribell stahl sich einen Schluck von Mavis Tee. Die Geste brachte Sammy zum Lächeln. Wenn er jemals seine besondere Person fand, hoffte er, dass er mit ihm so glücklich und zufrieden sein würde, wie Maribell und Mavis es offensichtlich waren.
Ambers Schnauben riss ihn aus seinen Tagträumen. „Wir sind diejenige, die dem Helden sagen, dass dies sein letztes Abenteuer ist. Wir gehen nicht selbst auf dumme Reisen. Es ist schwer genug, im richtigen Moment an Ort und Stelle zu sein, damit die Person unseren Schrei hört.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt—den Schrei der Banshee zu hören, wissen, was er bedeutet und dennoch weiterzumachen.“ Jon seufzte. „Ich nehme an, das ist der Grund, warum ich kein Held bin.“
„Du bist zu intelligent, um einer zu sein.“ Emilia grinste. „Um ein Held zu sein, darf man über keinerlei Vorstellungskraft verfügen. Ansonsten würden sie nicht ihre heldenhaften Taten vollbringen, sondern sich unter der Bettdecke verstecken. Denn obwohl es ja heißt, dass nur das Überwinden deiner Ängste dich zu einem wahren Helden macht, denke ich, dass es besser ist, von Anfang an keine Angst zu haben. Corum ist ein gutes Beispiel dafür. Obwohl einige seiner Gegner absolut furchteinflößend sind, beschäftigt der Autor sich nie damit, dass Corum Angst hat. Er ist zu sehr damit beschäftigt, alles Mögliche umzubringen—genau wie Beowulf, wenn man so darüber nachdenkt.“
„Ja, er ist ein gutes Beispiel, seine Gedanken sind fest auf die Aufgabe gerichtet, ganz egal, wie viel Blut dafür vergossen werden muss.“ Jon nahm sich noch ein Cookie. „Und das Blutvergießen wird immer im Detail beschrieben, als ob die Menge an Blut und Eingeweiden die Tat noch heldenhafter macht.“
„Das ist ein guter Punkt. Archaische Helden haben in Bezug auf persönliche Entwicklung wenig zu bieten—wenn man außer Acht lässt, dass sie mit jedem Abenteuer schlachtenerprobter werden. Seht euch Herkules an … Die einzige Sache, die er je getan hat, die nicht direkt in Verbindung mit seiner Kraft stand, war, sich zwischen den beiden Frauen zu entscheiden, die die beiden Wege repräsentierten, die er im Leben einschlagen konnte. Er hat aktiv beschlossen, ein Held zu werden, genau wie Corum aktiv beschlossen hat, dem Ruf dieses Keltenstammes zu folgen, nachdem er so viele Aufgaben überlebt hatte. Moorcock lässt es ihn aus Langeweile tun, was sehr gut zu Emilias Theorie passt. Jemand ohne Vorstellungskraft hat Schwierigkeiten damit, nichts zu tun.“ Declan streckte seine langen Beine. Die anderen nickten, um ihre Zustimmung zu dieser Analyse zu zeigen. Als es so schien, dass niemand etwas hinzufügen wollte, fasste Sammy ihre Diskussion zusammen.
„Wir sind uns also einig, dass Helden sexuell attraktiv sind, auch für eine asexuelle Spezies, weil brutale Kraft in unserer kultivierten Gesellschaft immer noch einen gewissen Charme besitzt. Sie sind nicht die hellsten Kerzen auf der Torte, ansonsten wären sie nicht in der Lage, sich ohne nachzudenken in gefährliche Situationen zu stürzen, die normale Leute niemals angehen würden. Und sie müssen auf irgendeine Weise sterben, weil wir ihnen kein glückliches Ende gönnen. Sonst noch etwas?“ Sammy sah alle an. Die Diskussionen in der Gruppe neigten dazu, häufig die Richtung zu ändern, und er war stolz darauf, wie gut sie es an diesem Abend geschafft hatten, bei einem Thema zu bleiben, auch wenn das Buch nur der Katalysator für ein breiter gefächertes Thema gewesen war.
Declan gähnte. „Nein. Nicht von meiner Seite. Aber wir könnten versuchen, ein paar Essays über das Konzept des Helden zu finden und sie beim nächsten Mal diskutieren.“
Die anderen nickten eifrig. Sammy liebte diese Momente, wenn sie entschieden, sich tiefgehender mit einer Sache zu befassen, sie ernsthaft zu diskutieren, beinahe so, als ob sie einen Kurs auf dem College besuchen würden.
„Ich werde ein paar Essays suchen. Vielleicht können wir das nächste Treffen damit beginnen, die verschiedenen Helden-Typen zu definieren? Wie klingt das?“
„Perfekt, mein Lieber. Maribell und ich werden sehen, was wir über Hexen-Helden finden können, obwohl ich glaube, dass es da nicht so viele gibt.“ Mavis begann, die leeren Tassen zu sammeln.
Jon stand auf, um ihr zu helfen. „Könntet ihr das nächste Mal Apfel-Pie machen?“, fragte er schüchtern.
Maribell, die neben ihm gesessen war, tätschelte sein Bein. „Natürlich, Lieber. Solange du versprichst, nicht zu vergessen, dein Hirn zu essen.“
Sammy drehte sich schnell um, damit niemand sehen konnte, wie er kicherte. Es war nicht wirklich lustig, aber zuzuhören, wie Maribell Jon wegen seiner Essgewohnheiten schalt, wie eine besorgte Großmutter es mit ihrem Enkel tun würde, fühlte sich so normal an—wenn man den Inhalt ignorierte. Jon war der erste Zombie, den Sammy kennengelernt hatte und anscheinend konnten sie wie normale Leute essen, aber sie brauchten hin und wieder etwas Gehirn, genau wie Vampire Blut benötigten. Wenn er vor seinem Computer saß, neigte Jon dazu, das Essen zu vergessen, und ein Zombie, der Hirn brauchte, war kein Anblick für Leute mit schwachem Magen.
„Das werde ich nicht. Ich verspreche es!“ Jon klang wie ein eifriger Welpe. „Ich habe mir eine Erinnerung in den Computer programmiert und eine Dauerbestellung bei Larry, dem Metzger an der Main Street. Oh, und Sammy ist mein Notfallplan, sollte die Erinnerung nicht funktionieren.“
„Sehr gut. Es gibt also Apfel-Pie.“ Maribell schaute die Tassen an, die Mavis auf einem Tablett gestapelt hatte. Sie runzelte konzentriert ihre Stirn und nach einem Wimpernschlag waren alle Tassen sauber.
„Ich liebe diesen Trick!“ Declan kicherte. „Ihr wollt wirklich nicht zu mir kommen und die Hausarbeit erledigen? Ich bezahle gut!“
Mavis schüttelte den Kopf in Richtung ihrer Hexenkollegin. „Nein, wollen wir nicht. Streng genommen ist es Betrug und wir machen es hier nur, weil wir Sammy nicht auch noch mit all dem schmutzigen Geschirr allein lassen wollen. Er arbeitet zu viel.“
Sammy hob seine Hände. „Es ist in Ordnung, Mavis. Ich liebe meine Arbeit und da mein Apartment direkt über dem Laden liegt, habe ich es nach Hause nicht weit.“
„Ich mache mir dennoch Sorgen um dich, Lieber. Wann hast du das letzte Mal einen netten Jungen für ein wenig sexuelle Entspannung hier gehabt?“
Und das war das Problem, wenn man mit Paranormalen befreundet war. Sie neigten dazu, sehr deutlich über körperliche Bedürfnisse zu sprechen. Sammys Ohren wurden heiß. Von einer Frau, die seine Großmutter hätte sein können, nach seinem Liebesleben—oder dem Fehlen davon— gefragt zu werden, war verstörend genug. Das abenteuerlustige Funkeln in ihren Augen zu sehen und zu wissen, dass sie in den Federn wahrscheinlich mehr Action erlebte als er, war einfach nur traurig. Das Mitleid in den Augen der anderen half auch nicht.
„Ihr wisst, dass ich wählerisch bin. Ich kann mich einfach nicht dazu überwinden, irgendeinen Typen über Grindr einzuladen, nur um Sex zu haben, nicht zu vergessen, dass ich nach Helena fahren müsste, um mich zu treffen, weil die meisten Leute nicht einmal wissen, wo Beaconville liegt.“
„Wir können dich jederzeit fahren. In der Nähe bleiben, um sicherzustellen, dass der Typ sich benimmt.“ Declan zuckte mit den Schultern.
„Wunderbar. Jetzt fühle ich mich wie ein Prostituierter mit seinen Zuhältern. Nein, ich will, dass ein Mann anständig um mich wirbt. Ihr wisst schon, Dates vor dem Sex.“
Declan schnaubte. „Du bist hoffnungslos romantisch.“
„Lass ihn in Ruhe. Es ist in Ordnung, dass er wartet, bis er seinen Mr. Darcy trifft.“ Emilia zwinkerte Sammy zu, berief sich auf das beste Buch, das je geschrieben wurde. „Und er hat zwei gesunde Hände und das Internet. Die Sache mit der sexuellen Erleichterung sollte kein Problem sein.“
Sammy vergrub sein tiefrotes Gesicht in seinen Händen. Wenn Freunde zu haben bedeutete, dass er Kommentare wie diesen erleiden musste, fragte er sich, ob ein Einzelgänger zu bleiben so schlimm gewesen wäre.
„Können wir bitte über etwas anderes reden? Das Wetter vielleicht? Und nur fürs Protokoll, ich schaue mir keine Pornos an. Ich möchte nicht auf seltsame Gedanken kommen.“
„Oh Mann, ich bin mir nicht sicher, ob das traurig oder niedlich ist. Maribell hat recht. Du brauchst einen festen Freund. Nur zu arbeiten ist nicht lustig.“ Amber schlüpfte in ihren schwarzen Mantel. Es war April und in der Nacht sanken die Temperaturen noch empfindlich.
„Leichter gesagt als getan. Ich arbeite daran, ja?“ Sammy sank in Maribells Umarmung. Sie roch nach Schokolade, einem blumigen Parfüm und, sehr schwach, nach einem seltsamen Kraut, das er gelernt hatte mit ihr zu assoziieren. Nachdem Sammy alle Frauen umarmt hatte, schüttelte Declan ihm fest die Hand und versicherte ihm noch einmal, dass er und Troy mehr als willig waren, ihm zu helfen, sollte er sich für Grindr entscheiden, was er entschlossen war nicht zu tun.
Jon winkte ihnen allen zu, bevor er durch die Tür verschwand, die in den Keller führte. Er mochte es nicht sonderlich, berührt zu werden, weil die Körperwärme anderer ihn immer daran erinnerte, dass er nicht länger lebendig war. Sammy fand das traurig und hätte Jon liebend gerne geholfen, aber der Zombie schien ein Gleichgewicht in seinem Leben gefunden zu haben, das Sammy nicht durcheinanderbringen wollte.
Als seine Freunde alle fort waren, schloss er die Eingangstür des Ladens und begann aufzuräumen. Dank Maribell musste er nur die Tassen zurück in den Hängeschrank aus dem 19. Jahrhundert stellen und die Kaffeemaschine säubern. Auf seinem Weg zu der Treppe, die ihn in sein Apartment bringen würde, fand Sammy den Müll, den er früher am Tag hatte nach draußen bringen wollen und dann vergessen hatte. Nach einer kurzen internen Debatte seufzte er, hob ihn auf und ging zur rückwärtigen Tür.
Der Müllcontainer sah wie ein außerirdisches Monster aus in der kleinen Hintergasse, die sogar am Tag heruntergekommen wirkte. Sammy schluckte. Er bekam nicht leicht Angst, aber so wie die Schatten sich im Halbdunkel der einzelnen Glühbirne über der Tür zu bewegen schienen, beeilte er sich, zu dem Container zu kommen. Nachdem er den Sack weggeworfen hatte, machte Sammy sich sofort wieder auf den Weg zurück zur Tür und der warmen Sicherheit des Hauses, als er plötzlich etwas hörte. Es klang wie eine Katze, die auf der Suche nach Überresten sowie den Ratten, die sich von den Überresten ernährten, den Müll durchwühlte. Sammy schauderte. Einige der Straßenkatzen in Beaconville waren kleine, bösartige Killermaschinen und er versuchte immer, es sich mit ihnen nicht zu verscherzen. Sich nicht einzumischen, wenn eine von ihnen auf der Jagd war, war Teil dieses Plans. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, bemerkte eine Präsenz hinter sich, die ganz eindeutig keine Katze war, fühlte, wie etwas Weiches und furchtbar stinkendes an seine Nase gedrückt wurde und dann … nichts.