„Mist!“
Ich ließ mich hinter der Theke auf den Boden fallen, als ein blecheres Gebimmel durch den kleinen Laden schallte. Der Grund meiner Panik schlenderte direkt aus meinen verschwitzten, äußerst peinlichen Teenager-Erinnerungen herein und tätschelte die Begonien. Wahrscheinlich tätschelte er sie. Ich konnte nur ganz kurz durch Körbe voll mit Scheren spähen, um die gebügelten, dunkelblauen Hosenbeine zu würdigen, die seine Beine umhüllten.
Tan Nguyen, der heißeste Typ, der in den letzten zweihundert Jahren die Carmel Cove High-School besucht hatte, war einfach in den winzigen Blumenladen spaziert, in dem ich arbeitete. War einfach so hereinspaziert, als ob der Anblick seiner wie gemeißelten, markant-hohen Wangenknochen bei mir nicht unter Garantie einen sofortigen Herzinfarkt verursachen könnte. Und wenn mich der nicht erledigte, waren da immer noch diese intensiv schokoladefarbenen Augen, die, wenn sie mich ansahen, als i-Tüpfelchen bestimmt ein doppeltes Hirnaneurysma auslösen würden.
„Hallo, Entschuldigung …?“
Oh, Scheiße, diese Stimme. Wie hatte ich diese Stimme vergessen können? Volltönend wie ein Cello, damals, als er der Star des Leichtathletikteams gewesen war und ich mich in der Duschkabine umzog, damit niemand meine dürren Beine sah. Jetzt hatte ihr das Alter eine herrlich raue Tiefe verliehen, durch die elektrische Funken summten, von denen ich mir wünschte, sie würden jeden Nerv meines Körpers entzünden. Und damit wäre er wahrscheinlich für eine weitere Todesursache verantwortlich.
„Äh, Jack?” Ein grell-pinkfarbener Croc kollidierte mit mir und ich sah hoch in das Gesicht meiner verwirrten Kollegin Lauri. Ihre Arme waren bis zu den Ellbogen mit roten Bändern umwickelt, denn wir führten beide einen anstehenden Krieg, der sich Valentinstag nannte.
Außerdem hatte sie Tan gerade verraten, dass ich mich versteckte. Das verdiente wirklich jedes existierende Schimpfwort der deutschen Sprache! Ich schluckte den Berg von Flüchen hinunter, für die man mir den Mund mit Ariel auswaschen sollte und murmelte an den Fußboden gewandt: „Alles klar. Hier hinten ist alles in Ordnung.“
Ich erhob mich langsam und wischte meine Hände an der hässlichen, grünen Schürze ab, in die mein magerer Körper verpackt war. Ich drehte mich weg von dem hinreißenden Kunden und konzentrierte mich stattdessen auf Lauri. Ihr Gesicht war jetzt in vollem Auslach-Modus, sie hob einen Finger und würde mir gleich vorwerfen, dass ich völlig grundlos auf den Bauch gefallen war.
„Sieht so aus, als wären keine Beutelratten hereingekommen“, faselte ich und mein gezwungenes Lächeln wurde zu einer erschrockenen Grimasse. Beutelratten? Was zur Hölle redete ich denn da? „Aber wir sollten sie trotzdem im Auge behalten. Man weiß ja, wie sehr sie auf … Blumengeruch stehen.”
Du lieber Himmel, halt den Mund!
Irgendeine andere Kreatur, die ihre Existenz dem Kundenservice verdankte und daher meine faselnde Körperhülle bewohnte, sorgte dafür, dass ich mich Tan zuwandte. Der Rest meiner Hirnmasse, die nach der Kombination aus gleichzeitigem Schlaganfall und Herzinfarkt noch übrig war wimmerte, dass er einen Anzug in perfekter V-Passform trug. Krawattenlos … und die beiden obersten Knöpfe hatte er offengelassen. Wahnsinn. Komplett hin und weg. Jack Dawson verabschiedete sich aus dieser Welt.
Lauri könnte wenigstens eine hübsche Friedenslilie zu meinem Begräbnis beisteuern.
„Was kann ich für dich tun?“, fragten die Überbleibsel meiner grauen Zellen.
Tan lächelte warm und meine zusammengepressten Lippen hoben sich zum dümmsten Lächeln meines Lebens. Es war ein reines Wunder, dass ich mein Kinn nicht auf die Hände sinken ließ und seufzte. Tu das nicht. Denk nicht mal dran, das zu tun!
„Jack”, sprach die sonore Stimme und seine Augen fingen zu strahlen an. „Ich habe dich nicht mehr gesehen seit …“
Chemie in der fünften Stunde, als ich dich meine Notizen vor der Abschlussprüfung abschreiben ließ und mich traute, an deinen Haaren zu riechen. Sie rochen wie Eichenmoos und Zimt. „High-School“, antwortete ich, womit ich bewies, dass ein kurzer Blick auf ihn doch nicht alle meine Hirnzellen vernichtet hatte.
„Genau.“ Sein Strahlen steigerte sich, es stellte quasi die Sonne in den Schatten. „Was hat sich inzwischen bei dir getan?”
„Ich darf nicht klagen, sonst werde ich gefeuert“, sagte ich ohne nachzudenken und zuckte erst danach zusammen. Aber zu meiner Verblüffung lachte er über diesen doofen Kommentar. Es war auch nicht einfach bloß ein höfliches Lachen – er prustete dabei. „Du! Du siehst …” Halt, stopp, nichts überstürzen. „Geht’s dir gut?”
„Kann man so sagen. Es freut mich riesig, dich zu treffen“, sagte Tan und seine Augen blickten nach unten, diese Augen, die meine Gedanken seit fünf Jahren nicht mehr verlassen hatten. Zweifellos, um alle die Optionen zu überprüfen, die auf dem Ladentisch ausgebreitet lagen. Er war ja freiwillig in einen Blumenladen gekommen. Das tat man nur, wenn man Eltern oder die bessere Hälfte beschwichtigen wollte oder wegen einer Leiche. Hoffentlich nicht wegen allem auf einmal.
Ich glitt einen Schritt vorwärts und versuchte, die Ladentheke aufzuräumen, die mit abgefallenen Blütenblättern bedeckt war – wobei ich lediglich rosa und lila Farbteilchen über das Glas schmierte. Voll lässig. „Bist du oft hier?” plapperten meine Lippen, während mein Verstand einpackte und sich davonmachte. War es zu spät, mich nochmal auf den Boden fallenzulassen?
Tan, nett wie er nun mal war, gluckste nur. „Ich versuche, so oft ich kann, hier zu sein, ja. Neuer Job, neue Stadt, rundum neue Erfahrungen.“
„Na, du ziehst dich jedenfalls …“ – an wie ein Mann, der jemanden über den Schreibtisch ziehen und ihm den Sinn des Lebens beibringen will – “ gut an.“
Ich bildete mir bestimmt nur ein, dass Tans dauergebräunte Haut rot wurde. Mein Bauch signalisierte mir eine wohlbekannte Gefahr. Der Ursprung lag darin, als mageres, seltsames Kind einer Kleinstadt zu versuchen, die eigenen Triebe zu ergründen. Unbeholfenheit kann Schläge nach sich ziehen, wenn man etwas falsch machte. Hör auf. Hör ganz schnell auf!
„Lauri hier kann dir helfen, zu finden, was du suchst, egal was“, sagte ich, packte meine Kollegin und schubste sie in seine Richtung.
„Kann ich das?“, flüsterte sie mir zu, aber ich rannte schon zurück zu dem kleinen Schrank, der mit Körben vollgestopft war, die wir vor Freitag füllen mussten.
„War schön, dich mal wiederzusehen, Tan“, rief ich kläglich und floh.
„Gleichfalls, Jack”, waren seine letzten Worte an mich. Ich überließ ihn den hilfreichen, wenn auch aggressiven Händen Lauris und hechtete zwischen die langen Rollen bunten Zellophans, um mich zu verstecken.
Ich legte beide Hände an meine Wangen, die so heiß waren, dass man darauf ein Spiegelei und auf meiner Stirn einen Pfannkuchen hätte braten können. Ich glaub, ich steh im Wald. Tan Nguyen, hier. In meinem Laden … in dem ich arbeitete. Ich will keinen Blumenladen und werde auch nie einen haben wollen. Und hier ist er, kurz vor dem Valentinstag.
Weil er etwas für seine Freundin kaufen will.
Im Watschelgang kam die Wahrheit daher, verpasste mir einen Fausthieb und knallte meinen Kopf an die rissige Rigipswand. Natürlich tat er das. Der Tag der Liebe und Rosen war beinahe da. Der Tag der Romanzen und des Weins. Der Tag der attraktiven Jungs, die Mädels um ihre Hand bitten.
Als ich jünger war, wusste ich zwei Dinge mit Sicherheit. Erstens: Ich würde buchstäblich für Tan sterben, wenn der Mann das von mir verlangen würde. Und zweitens: Ich hätte in Millionen von Jahren nicht den Mut, ihm das zu sagen. Das zweitschlimmste Szenario das auf mein fiktives Geständnis folgen könnte wäre, dass er hundertprozentig hetero war. Das absolut schlimmste Szenario, das mich zu einer Namens- und Berufsänderung wie zum Beispiel Holzfäller bringen könnte war, dass Tan auf Männer stand und sich nicht für einen dürren Floristen interessierte, der so tat, als sei er ein Künstler.
Beide Szenarien würden mein Herz zu Staub zermalmen, daher war die gesündeste Option, das Ganze zu ignorieren und darauf zu hoffen, dass mein Schmachten sich von selber legen würde.
Als die Kasse klingelte und die kitschige Ladenglocke bimmelte, riskierte ich einen kurzen Blick in den Verkaufsraum. Da war kein hinreißender Gott der Männerwelt mehr, nur Lauri, die versuchte, mit Bleichmittel die Schweinerei zu beseitigen, die ich angerichtet hatte. Ich verspürte einen Kloß im Hals, einen Kloß, der besagte ‚Du hast deine einzige Chance verspielt‘, aber ich schluckte ihn heftig hinunter. Gesunde Reaktion!
Ich wühlte mich durch die Bestellzettel und ignorierte einen Neuzugang: einen Korb voller Blumensträuße für M. Winthorpe in Angriff zu nehmen. Während ich grünen Schaumstoff zuschnitt, wobei meine Hände in gefährliche Nähe scharfer Klingen gerieten, sah Lauri zu mir herüber und fragte: „Also … wer war das?“
„Niemand“, nuschelte ich.
„Genau. Wenn nämlich niemand durch die Tür kommt, dann ist es ganz normal, dass jemand wie verrückt schwitzt, sich auf den Boden schmeißt und dann ins Lager davonwuselt.“
„Ich bin nicht …!“, donnerte ich und hob die Zickzackschere hoch in die Luft, als ob ich sie gleich in ihren Hals bohren wollte. Lauri ließ ihren sarkastischen Blick zu den glänzenden Klingen hochwandern und ich ließ sie auf die Theke fallen „Er ist jemand, den ich mal gekannt habe, in der High-School.“
„Eine alte Flamme?“
„Ich würde meine linke Nuss dafür geben, wenn es so wäre“, rutschte es mir unwillkürlich heraus. Ich brauche mehr Schimpfworte, bitte. Immer her damit.
Lauri prustete laut los, weil sie mich erwischt hatte und das Band um ihre Finger wickelte sich ab. Wir mussten zwei Dutzend Körbe fertigmachen und es würden garantiert noch mehr werden dank der Nachzügler. Niemals jemanden abweisen, selbst, wenn wir nur noch einen Zweig Schleierkraut und eine Packung Karamellbonbons haben. Das waren die Regeln des Ladens, die es so schrecklich machten, den Februar zu überstehen.
„Na, dein kleiner Schnuckel muss ja was Besonderes für Valentin geplant haben. Er hat das größte Paket bestellt, das wir haben und noch ein Extra dazu.“
Das war der andere Grund, warum es mir davor graute, nach Neujahr in die Arbeit zu gehen. Die Finger waren von Dornen zerfetzt, die Augen getrübt vom Binden des zehntausendsten Bändchens, jede Nacht pulte ich Stengel und Blätter aus meiner Unterwäsche und wozu das Ganze? Um Paaren dabei zuzusehen, wie sie sich anschmachteten, während ich auf ein Trinkgeld hoffte, was unrealistischer war als Bilder von Bigfoot auf einem Jetski? Um diese Zurschaustellungen von ‚Meine Liebe ist größer als deine!‘ zu Preisen von hundert bis fünfhundert Dollar von Tür zu Tür zu schleifen? Dem Gekreische derer zuzuhören, die sich nach Feierabend in der Kneipe versammelten, um sich zu bestätigen, wie sehr ihr Freund sie liebte?
Du lieber Himmmel, ich würde alles dafür geben, einen Freund zu haben.
„He.“ Lauri stieß mich mit dem Ellbogen an. „Träum gefälligst in deiner Freizeit. Wenn wir das nicht fertigbekommen, reißt uns Miss Hellberg den Hintern auf.“ Ich seufzte und arrangierte Gerberas. „Sie wird uns nicht den Hintern aufreißen, zuerst wird sie uns die Beine brechen, damit wir nicht wegrennen können.“
Valentinstag. Der zweitschlimmste Tag für Floristen, gleich nach dem Muttertag. Und der absolut schlechteste Zeitpunkt, ein liebeskranker, verunsicherter Narr zu sein, der pausenlos ins Fettnäpfchen trat. Ich hasse diesen blöden Feiertag.