Juni 1990
Grady Nash brachte seinen Laster vor einer Häuserreihe zum Stehen. Er überprüfte nochmal die Adresse. Sein neues Zuhause hatte sehr wenig mit der Ranch in Kansas zu tun, die er vor einem halben Tag verlassen hatte. „Sind wir hier richtig?“
Sidney Wilks, sein Partner, erwachte und setzte sich auf. Er streckte die Arme über den Kopf, gähnte und versuchte, die Verspannungen in seinem schmalen Körper loszuwerden. „Ich fasse es nicht, dass wir schon da sind.“
Schon? Nash gluckste. Er könnte Sidney jetzt darauf hinweisen, dass er fast die ganze verdammte Strecke geschlafen hatte, aber ehrlich gesagt war Sidneys Musikgeschmack einfach Mist und Nash hatte es genossen, die meiste Zeit Talk Radio zu hören.
„Was hältst du davon?” Sidney wartete Nashs Antwort nicht ab und glitt aus dem Laster.
Nash seufzte und öffnete die Autotür. Er musste daran denken, dass er einen Umzug vom Land in die Stadt machte. Sicher, Lake Forrest in Illinois war vielleicht nicht das Zentrum von Chicago, aber es war nahe genug, dass ihm unwohl dabei war. Er gesellte sich zu Sidney auf den Gehweg und starrte an dem zweistöckigen Kasten nach oben, der zwischen zwei andere zweistöckige Kästen gepfercht war. Ja, die Fassade war attraktiv, aber egal wie nett das Ganze aussah, es würde niemals so wie die Ranch sein. Zum Teufel, der Vorgarten hatte die Größe seines alten Pick-up.
„Hast du nicht gesagt, du mietest ein Haus?“ Nash betrachtete die Nachbarswohnungen in unmittelbarer Nähe.
„Das ist eines. Man nennt es Reihenhaus. Mir gefällt, wie die Steinsäulen auf der Veranda dafür sorgen, dass es einladender aussieht.“ Sidney sah zu Nash hoch und wartete offenbar darauf, dass er etwas sagte.
Nash war nicht sicher, ob man den 25 Quadratmeter großen Betonfleck als Veranda bezeichnen konnte, aber er behielt es für sich. „Es ist hübsch.“
Sidney lächelte ihn an und plötzlich war alles andere unwichtig für Nash. Ja, dieses Lächeln war der Grund, dass er seine Zelte in Kansas abgebrochen hatte, um dem Mann zu folgen, den er liebte.
Sidney drehte sich zu dem beladenen Laster um. „Das ist angeblich ein sicheres Viertel, aber ich glaube, wir sollten doch abladen, solange es noch hell ist.“
Nash nickte und ging zur Rückseite des Lasters. „Sperr schon mal auf und öffne die Haustür.“
Sidney wühlte in seiner vorderen Tasche und förderte einen billig aussehenden Schlüsselring zutage. „Lass mir kurz Zeit, damit ich Licht machen kann.“
Nash entriegelte die Ladeklappe und schob sie nach oben. Obwohl der Laster nicht ganz vollgepackt war, war das eigentlich ein Job für mehr als zwei Personen. Die Rancharbeiter hatten beim Verladen der Möbel geholfen, aber er bezweifelte, dass Sidney stark genug war, die schwereren Stücke die etwa acht Stufen der Vordertreppe hochzuhieven. Zum Glück hatten sie beschlossen, erst nach Ankunft in der Stadt ein neues Sofa zu kaufen, denn es war völlig ausgeschlossen, dass Sidney einen Teil des Ungetüms hätte tragen können, das im Ranchhaus stand.
Nash fing an, Kartons auf den Gehweg zu stellen. Schließlich deckte er seinen geliebten Lehnstuhl auf. Sidney hasste den Sessel aus schwarzem Leder, aber Nash hatte sich geweigert, ihn zurückzulassen.
„Soll ich mit denen hier anfangen oder brauchst du bei dem da Hilfe?“, fragte Sidney, der zwischen die Unmenge von Kartons getreten war.
„Fang mit den Kartons an. Ich glaube, den Sessel schaffe ich alleine.“ Nash dachte an den Tag zurück, als das örtliche Möbelhaus den Sessel geliefert hatte; wenn er sich recht erinnerte, konnte man die Rücklehne abnehmen. Er musste ein bisschen herumfummeln, aber schließlich schaffte er es, das verdammte Ding auseinanderzunehmen.
Sidney schwitzte schon nach drei Abstechern ins Haus und stemmte die Hände in die Hüften, als er sah, wie Nash den unteren Teil des Sessels von der Ladefläche hob. „Du solltest das nicht alleine tragen.“
„Das geht schon.“ Nash nickte in Richtung der Kartons. „Schnapp dir noch eine Ladung und dann zeig mir, wo du ihn haben willst.“
Sidney murmelte vor sich hin und tat, was man ihm gesagt hatte. „Ich kann durchaus helfen, weißt du.“
„Und ich brauche deine Hilfe auch, wenn wir zum Bett kommen, aber das hier geht alleine.“ Nash folgte Sidney die Stufen hinauf, dann manövrierte er den Sessel ins Haus.
„Ich dachte, du könntest ihn hier hinstellen.“ Sidney gestikulierte in Richtung einer kartonfreien Stelle.
Das erste, was Nash bemerkte, war der hellbeige Teppichboden, der scheinbar die gesamte Wohnfläche bedeckte. Den Küchenboden konnte er nicht sehen, weil eine halbhohe Mauer beide Räume trennte, aber was er sehen konnte reichte, dass er aufstöhnte.
„Wie lange, glaubst du, kann ein Mann wie ich in einer Wohnung mit beigem Teppichboden wohnen, ohne unsere Kaution zu riskieren?“ Nash setzte den Sessel ab.
„Ich habe mir gedacht, dass ich die kleine Bank von Mama in den Eingangsbereich stelle. Auf die Art haben die Leute etwas zum Hinsetzen, wenn sie ihre Schuhe ausziehen.“ Sidney grinste. „Siehst du, ich bin nicht ganz so hirnlos, wie du vielleicht meinst.“
Nash schüttelte den Kopf. Er benahm sich wie ein Idiot und er wusste es auch. Er musste sich an sein neues Leben gewöhnen und es würde keinem von ihnen helfen, wenn er sich über alles beschwerte, was anders war.
„Ich glaube nicht, dass du hirnlos bist. Ich wollte es nur zu bedenken geben.“ Nash legte seinen Arm um Sidneys Taille und zog ihn an sich. „Ich kann meine Stiefel schon ausziehen, wenn ich heimkomme, aber es kann sein, dass du mich dran erinnern musst, bis ich es in meinem dummen Schädel speichere.“
Sidney strich mit den Fingern durch Nashs dichte dunkle Haare, „Es ist ein wunderschöner Schädel, weil er zu dem Mann gehört, den ich liebe, seit ich zehn war.“
In dem Moment wusste Nash, dass er überall leben konnte, solange nur Sidney bei ihm war, so einfach war das.
* * * *
Sidney starrte aus dem Zugfenster und strich mit der Handfläche über die teure Schultertasche aus Leder, die ihm Nash zu seinem ersten Arbeitstag geschenkt hatte. Sie hatten das ganze Wochenende gebraucht, um auszupacken, also hoffte er, Nash würde seinen Rat befolgen und ein Weile aus dem Haus gehen.
Sobald der Zug in die Stadt einfuhr, konnte Sidney gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Chicago war voll mit wunderschönen Häusern – sowohl alte als auch neue Gebäude. Ein Teil von ihm hätte liebend gern eine kleine Wohnung im Zentrum gesucht, aber es war völlig unmöglich, dass sich Nash inmitten hoch aufragender Häuser und Menschenmassen wohlgefühlt hätte. Wenigstens er selbst würde seine Tage in dem Getümmel verbringen.
Als er das Büro erreichte, genügte die Schönheit der Stadt nicht mehr, um seine Nerven zu beruhigen. Er war sein erster offizieller Tag als Architekt, und das war etwas, worauf er seit seiner Kindheit hingearbeitet und was er sich erträumt hatte.
Er starrte hinauf auf das ausladende Innere des Hochhauses. Als er zum Vorstellungsgespräch nach Chicago gefahren war, hatte er an einer Führung durch die drei Stockwerke teilgenommen, die das Unternehmen gemietet hatte und die waren auch soweit in Ordnung, aber der Empfangsbereich war für ihn ausschlaggebend gewesen. Er war nicht sicher, welche anderen Firmen in dem Gebäude untergebracht waren, aber den großen mundgeblasenen Kronleuchtern und den weißen Ledermöbeln nach zu schließen schätzte Sidney, dass sie renommierter waren als das Architekturbüro, für das er arbeiten würde.
Er erinnerte sich an die Anweisungen seines neuen Chefs und ging zum Sicherheitsschalter.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte ein älterer, muskulöser Sicherheitsbeamter.
„Mein Name ist Sidney Wilks. Harold Armstrong hat gesagt, hier wäre ein Sicherheitsausweis für mich hinterlegt.“
„Dazu muss ich einen Ausweis sehen.“
„Natürlich.“ Sidney wühlte nach seiner Brieftasche und gab ihm seinen Führerschein.
Der Sicherheitsmensch betrachtete Sidney ein paar Augenblicke lang, dann produzierte er einen laminierten Sicherheitsausweis. „Damit kommen Sie in die Aufzüge, aber Sie müssen trotzdem irgendwann heute im Sicherheitsbüro vorbeikommen, da wird ein Foto für Ihren endgültigen Ausweis gemacht.“
„Geht klar.” Sidney streifte sich das schwarze Umhängeband über den Kopf. Er merkte, dass der Wachmann ihn immer noch anstarrte und überlegte, ob er vielleicht irgendwie verdächtig aussah. „Ist das alles, was ich tun muss?“
Der Wachmann nickte.
Sidney rückte seine neue Schultertasche zurecht. „Gut, bis später dann.“
Als der ältere Mann nichts mehr sagte, ging Sidney zu einer großen Gruppe, die sich um die Reihe von Fahrstühlen drängte und machte sich im Geist eine Notiz, morgens einen früheren Zug zu nehmen. Er hasste Hetzerei und wenn er früh genug in der Stadt ankam, könnte er auch in eines dieser netten Kaffeehäuser gehen und sich etwas zum Mitnehmen holen, ohne sich zu verspäten.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Frau, die ihn anstarrte. Er war an die Reaktion der Leute auf ihn gewohnt. Die Narbe zog sich von seinem Ohr bis zum Mundwinkel hin, was unschön war genauso wie die Tatsache, dass einer seiner besten Freunde vom Hals abwärts gelähmt war wegen eines Autounfalls, der Grund für Sidneys Aussehen. Angesichts seines nur oberflächlichen Andenkens an den Unfall hatte er keine Lust, sich über die Reaktion der Frau aufzuregen. Anstatt ärgerlich zu werden wandte er sich ihr zu und lächelte. „Guten Morgen.“
Die Frau unterbrach den Blickkontakt und ihr Kopf schnellte zu der Aufzugreihe zurück.
Sidney versuchte, ihr unhöfliches Benehmen nicht zu beachten. Er versuchte, sich einzureden, dass die Frau von seinen langen, schwarzen Haaren fasziniert war. Mit Rücksicht auf das Betriebsklima hatte er seine Haare zu einem ordentlichen Knoten im Nacken zusammengefasst. Leider wusste er, dass ihr intensives Starren mehr mit der Narbe zu tun hatte, die von seinem Mundwinkel zum Ohrläppchen verlief.
Einer der Aufzüge rechts gab einen Klingelton von sich und die Türen gingen auf. Mehrere Menschen kamen heraus, dann drängten sich drei Viertel der wartenden Menge hinein. Sidney starrte auf die abwärts wandernden Zahlen der anderen fünf Aufzüge und beschloss, auf den nächsten zu warten. Er versuchte, die Erinnerungen an den Unfall abzuschütteln, der ihm die Narbe verpasst und einen guten Freund gelähmt hatte. Das letzte, was er brauchte war ein erschüttertes Selbstvertrauen, bevor sein erster Arbeitstag überhaupt erst anfing.
Schließlich gelang es Sidney, sich in einen der Aufzüge zu quetschen und er bat jemanden, den Knopf für den 15. Stock zu drücken. Er hielt die Schultertasche vor den Magen in dem Versuch, so wenig Platz wie möglich einzunehmen und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Er dachte daran, wie er sich gefreut hatte, als er entdeckte, dass das Bürogebäude in Gehweite der Metra-Station lag, weil er Horrorstorys gehört hatte über die Verkehrsstaus auf den Schnellstraßen in die Stadt. Dummerweise hatte er angenommen, dass er durch die Zugfahrt diesem Stress vor Arbeitsbeginn entkommen könnte. Mit dem Menschenstau beim Betreten des Gebäudes hatte er jedoch nicht gerechnet.
Endlich, nach der längsten Aufzugfahrt seines Lebens, gingen die Türen auf. „Entschuldigung.“ Er gab dem Mann vor ihm einen sanften Stups. Der Mann rührte sich nicht und er wiederholte, diesmal in bestimmterem Ton: „Entschuldigung. Das ist mein Stockwerk.“
Mit einem übertriebenen Seufzer trat der Mann zur Seite.
Sidney musste sich immer noch durch den engen Spalt quetschen, den der Mann freigemacht hatte, aber endlich spuckte ihn der Aufzug aus.
Die eindrucksvolle Dame am Empfangspult lachte leise, während Sidney versuchte, sich wieder zu fassen. „Tagsüber ist es nicht so wild, aber in der Früh und um sechs ist es brutal“, sagte sie und erhob sich. „Sie sind bestimmt Sidney. Ich bin Susan.”
Sidney machte einen großen Schritt auf sie zu und streckte die Hand aus. „Freut mich, Susan.“
„Mr. Armstrong ist heute nicht im Haus, aber er hat Anweisungen für Sie hinterlassen. Zuerst müssen Sie in der Personalabteilung Papierkram erledigen und Formulare ausfüllen. Wenn Sie das geschafft haben, erkläre ich Ihnen, wie Sie zu Ihrem Arbeitsplatz kommen. Mr. Armstrong möchte, dass Sie sich gleich in das Projekt stürzen, er hat Ihnen deswegen im Anhänger des Bauleiters einen Arbeitsbereich zugeteilt.“
Susan führte Sidney einen breiten Gang entlang. „Pausenraum ist rechts, auch die Toiletten für die Angestellten.“ Sie deutete jeweils im Vorbeigehen darauf. „Ab morgen können Sie in der Früh direkt zum Einsatzort fahren, außer Sie haben ein vorher angesetztes Meeting.“
Sidney blieb stehen. „Meinen Sie damit, dass ich nicht hier arbeite?“
Susan wurde langsamer. „Sie arbeiten direkt auf der Baustelle, bis die Bibliothek fertig ist, außer das Wetter lässt es nicht zu.“
Sidneys Herz wurde schwer. Die Baustelle lag zwar an der Nordseite von Chicago, was bedeutete, das die Zugfahrt kürzer war, aber er hatte sich wirklich darauf gefreut, im Stadtzentrum zu arbeiten. „Na gut. Aber Mr. Armstrong hat mir das nicht gesagt.”
Susan wedelte mit der Hand. „Tut mir leid. Ärgern Sie sich nicht drüber. Mr. Armstrong hat eine Menge Projekte und er tendiert dazu, die genaueren Details auszulassen, wenn er etwas erklärt.“
Ach was, tatsächlich? Sidney hielt seine Schultertasche hoch. „Habe ich hier irgendwo einen Arbeitsplatz, wo ich die aufbewahren kann, bis ich zur Baustelle fahre?“
Susan biss sich auf die Lippen, dann streckte sie die Hände aus. „Ich weiß nicht genau, wo Sie Ihren Platz haben, wenn das Bibliotheksprojekt abgeschlossen ist, aber im Moment kann ich Ihre Tasche hinter das Empfangspult stellen.“
Sie deutete auf eine geöffnete Türe. „Das ist das Personalbüro. Sagen Sie Janice einfach, wer Sie sind, dann gibt sie Ihnen alles, was Sie ausfüllen müssen.“
Sidney übergab ihr die Tasche. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
Susan lächelte und winkte mit der freien Hand ab. „Keine Ursache.“
Sidney versuchte, weiterhin enthusiastisch zu bleiben, während er Formulare ausfüllte, wegen seines endgültigen Sicherheitsausweises zum Sicherheitsbüro ging und seine Schultertasche bei Susan abholte, aber irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte. Erst im Taxi auf dem Weg zur Baustelle fiel ihm ein, dass kein einziger Architekt der Firma auf ihn zugekommen war, um ihn zu begrüßen. War er so naiv gewesen zu denken, dass ihn die Leute hier anders behandeln würden als in der Highschool?
Bei der Ankunft auf der Baustelle war seine Stimmung deutlich gesunken, aber er hoffte, dass der Nachmittag besser verlaufen würde als der Morgen.